
Wie sieht sie aus, diese neue Held:in?
Wir erschaffen eine Figur in ihren drei Dimensionen: Außen, Innen und Welt. Dann befragen wir sie und lernen sie im Gespräch kennen. Vielleicht ist die Held:in auch mehrere, ein Kollektiv, ein Gruppenwesen? Lassen wir uns von uns selbst überraschen.
Ein Wort vorweg zur Leichtigkeit.
In all meinem Tun, in allen meinen Werkstätten, lege ich ein großes Augenmerk auf Leichtigkeit.
Die Leichtigkeit hat ein hohes Gewicht für mich, könnte man wohl sagen.
Ich glaube, Leichtigkeit ist ein Schlüssel.
Beim Schreiben kommt sie so oft hervor, die innere Zensorin, sie, die alles niedermacht. Die Schwere auf uns legt, wie einen staubigen, alten Teppich. Durch harsche, finstere Worte von zerstörerischer Kraft setzt sie uns zu. Ich denke mir: Sie meint es nicht böse. Fehlgeleitet ist sie, ich gebe ihr mein Mitgefühl, sehe ihr Bedürfnis, mir zu helfen. Die vermurkste Umsetzung dieses freundlichen Anliegens. Sie möchte nicht, dass ich mich lächerlich mache (so meine Zensorin sehr gern: „Im Ernst jetzt mal? DAS? Mach dich doch nicht lächerlich!“), sie möchte, dass ich etwas Wichtiges sage („Echt nobelpreisverdächtig!“, ja, Sarkasmus, den kann sie auch). Und das ist auch wirklich lieb von ihr. Aber jetzt gerade nicht. Gerade passt es einfach nicht so. Also schicke ich sie vor die Tür, sie soll Kaffee trinken gehen, vielleicht gern auch mit den anderen Zensorinnen aus der Gruppe, die sich da draußen herumdrücken. Sie dürfen sich gern austauschen, in ihrer liebevollen Art – ich jedenfalls, schreibe jetzt diesen Text.
Und so gelingt es, nach und nach, immer besser, immer länger, sie mir vom Hals zu halten. Den sie ansonsten gern mal würgt. Die liebe! Es ist ein Vorgang wie beim Meditieren: Gedanken tauchen auf, ich bemerke sie und kehre zum Atem zurück. Dieses Auftauchen der Gedanken gehört zur Meditation, ist integraler Bestandteil. Dann das Bemerken. Dann die Rückkehr in die Konzentration. Und genauso ist es beim Schreiben: Integraler Bestandteil des Schreibprozesses ist die innere Beschimpfung durch die Zensorin. Dann kommt das Bemerken, dann das: Vielen Dank, aber gerade nicht! und die Rückkehr zu meinem Satz. Den ich lustvoll beende.
Gib dich dieser Leichtigkeit hin! Es ist einfach schön. Probier es, du wirst sehen, es ist eine Wonne!
Nun aber. Figur.
Wir wollen eine lebendige Figur erschaffen. Eine sympathische, vielschichtige Figur, da lassen wir uns nicht lumpen. Eine Figur hat drei Dimensionen (das habe ich mir von Lajos Egri ausgeborgt, er schreibt es in „Dramatisches Schreiben“).
Ich nenne die Drei: Außen, Innen und Welt.
Außen
Die Dimension Außen ist das, was wir von außen wahrnehmen können, wenn wir diese Figur betrachten, wenn wir sie erleben. Der Klang ihrer Stimme. Der Geruch ihrer Haut. Ihr Gang. Alles, was ich an ihr hören, riechen, schmecken und sehen kann. Und tasten. Körperlichkeit. Stimmlichkeit. Ausstrahlung.
Innen
Die Psyche. Ihre Einstellung zu sich selbst. Sexuelle Orientierung. Gender. Wie ausgeprägt ist ihre Fähigkeit zu lieben? Was sind ihr Ängste? Träume? Wer will sie sein, in diesem Leben? Alles, alles, was in ihr vorgeht. Ihre Gefühle und Bedürfnisse. Ihre Gedanken. Die Stimme ihrer inneren Zensorin 🙂
Welt
Das, wie sie in der Welt steht. Ihr Name gehört dazu. Privilegien. Sich der Privilegien oder des Mangels daran bewusst werden, die meine Figur hat. Ihr Status. Reichtum. Armut. Familiengeschichte. Migration. Eltern, Großeltern. Geschwister. Kinder, Enkel, Urenkel. Wahlfamilie. Freund:innen. Einsamkeit. Ihr werden. Ihr geworfen sein.
So ist eine Figur. Diese drei Dimensionen hat sie.
Nun aber wollen wir nicht irgendeine Figur. Wir haben etwas Bestimmtes im Sinn.
Wir suchen die Protagonistin, die Hauptfigur unserer Geschichte über Das Gute Leben für Alle.
Schließe gleich einmal kurz die Augen. Atme dreimal stimmhaft aus. Ein Seufzen, Loslassen, Entspannen.
Dann lass sie aufsteigen vor dir.
Könnte sie ein Baum sein etwa, oder eine Landschaft? Eine Aktivist:innen-Gruppe, deren Gruppenwesen spricht?
Oder ist sie eine Person? Eine vielleicht, die jetzt wirklich ernst macht. Sich verbündet, sich verknüpft, verwebt mit den Menschen, der Welt! Die mit großem Hub handelt, tiefe Schubkraft –hinaus! Mit Freude. Brennen ohne auszubrennen.
Welche Eigenschaften braucht so eine?
Wie ist so ein Innen beschaffen? In welchem Außen kommt sie daher? Und wie steht dieses Innen und Außen in der Welt?
Schließe jetzt die Augen. Erfühle sie. In einem körperlichen Sinne. Fasse deine Figur an. Rieche sie. Wie schmeckt diese Figur?
Wer steigt auf?
Nach ein paar Minuten öffne die Augen und schreibe einen kleinen Text von 15 Minuten. Lass alles kommen, was kommen will. Der Text darf alles sein. Fragmentiert, unverständlich, seltsam. Sogar langweilig darf er sein. Es kommt nicht darauf an. Es ist der Text, den du gerade jetzt schreibst. Nicht weniger. Und nicht mehr.
Schillernde Texte. Seltsame Texte. Fremdartige Texte.
Texte aus einem unbewussten Land.
Uns eingeflüstert. Was rauscht der Wind da? Wispert. Flüstert. Weht.
Alle Texte dürfen entstehen.
Das ist deine Figur.
Und jetzt führst du noch ein Interview mit deiner Figur. Ihr trefft euch in einem Café oder bei ihr zuhause. Freundliche Begrüßung.
Du bist neugierig auf sie, stellst Fragen, ihr sprecht über das Leben. Du lernst sie besser kennen. Und sie dich. Schreibe einen Dialog. Du stellst eine Frage, sie antwortet. Sei deine Figur.
Schreibe 10 Minuten dieses intensive Gespräche.
Abschließend kannst du noch einen Monolog deiner Figur schreiben: Was ich über das Leben sagen möchte. 7 Minuten. Richte dich an ein atemloses Publikum. Es hängt an ihren Lippen. Was hat sie zu sagen? Wie ist es, dieses Gute Leben für alle?
Schreibt mit Leichtigkeit, meine lieben Schreibfreund:innen!
Schreibt, was gerade geschrieben werden will.
Anette meint
Liebe Helen, ich genieße jedes Wort, das du hier schreibst. Vielen Dank für deinen liebevollen Witz und deine wunderbaren Intentionen!
Anette
Helen meint
Liebe Anette, herzlichen Dank! Das freut mich sehr.
Ich freue mich darüber, dass du dabei bist!
Herzlich, Helen